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"Ziehende Landschaft" von Hilde Domin. Ein Gedicht fängt die Erfahrung von Vertreibung und Verlorensein ein.

Aktualisiert: 11. Jan.

Willkommen im Wonnemonat Mai. Während der März zaghaft erste Frühlingsboten schickte und der April sich nicht entscheiden konnte, fühlt sich der Monat Mai endlich nach Ankommen an. Die Bäume schimmern grün, die Seen leuchten blau.


Ziehende Landschaft und Heimat, blaues Meer und gelbe Sonne
Heimat und Exil

Vom Ankommen erzählt auch das Gedicht Ziehende Landschaft von Hilde Domin. Aber auch von Entwurzelung und Fremdsein. Sie ist eine der wichtigsten Vertreterinnen der Exillyrik. Als Jüdin floh sie vor den Nazis und befand sich 20 Jahre lang auf einer ungewollten Wanderschaft. Ihre zweite Geburt als Dichterin vollzog sich an dem Ort, nach dem sie sich benannte, dem karibischen Ort, der für fast 15 Jahre ihre neue Heimat war. Santo Domingo.







Ziehende Landschaft


Man muß weggehen können

und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden,

als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Man muß den Atem anhalten,

bis der Wind nachläßt

und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,

bis das Spiel von Licht und Schatten,

von Grün und Blau,

die alten Muster zeigt

und wir zuhause sind,

wo es auch sei,

und niedersitzen können und uns anlehnen,

als sei es an das Grab

unserer Mutter.


Hilde Domin


Hilde Domin wurde 1909 in Köln im großbürgerlichen Elternhaus Löwenstein geboren. Die Universitäten standen der wissbegierigen Tochter aus dem Professorenhaus offen. Sie studierte in Heidelberg, Köln und Berlin, zuerst Jura und später Politikwissenschaften. In Berlin hörte sie als junge Studentin eine Rede von Adolf Hitler, woraufhin sie „Mein Kampf“ las. Politisch interessiert und involviert wie sie war, ahnte sie, dass seine Worte nicht nur Schall und Rauch waren. Zum Sommersemester 1931 kehrte sie nach Heidelberg zurück. Dort lernte sie den jüdischen Kaufmannssohn und Archäologiestudenten Erwin Palm kennen.

Gegen den Willen ihrer Eltern folgte sie dem Italiensehnsüchtigen in die ewige Stadt Rom, eine Art Exil auf Probe. Was als Auslandsstudium begann, wurde 1933 zu ihrer ersten Exilstation.


“Man lebt nicht alle Leben, die man leben könnte.“ - Hilde Domin

Während Hitler in Deutschland Reichskanzler wurde, konnte Hilde Löwenstein in Italien ihr Studium abschließen. Hilde und Erwin heirateten und das Paar hielt sich buchstäblich mit der Sprache über Wasser. Erwin Palm arbeitete an der Universität, Hilde Palm gab Sprachunterricht und übersetzte die wissenschaftlichen Arbeiten ihres Mannes. Doch auch in Italien spitzte sich die politische Lage zu. Neue Rassengesetze zwangen das Paar in letzter Minute zur Flucht über Paris nach Großbritannien. 1939 brach der Krieg aus und die beiden flohen erneut über Kanada in die Dominikanische Republik nach Santo Domingo. Dort sollten sie die nächsten vierzehn Jahre verbringen. 


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Hilde Palm musste sich in der karibischen Heimat einleben, sie gab erneut Sprachunterricht und übersetzte. Ihr Mann erhielt eine Professur an der Universität. Dennoch litt sie unter dem Verlust ihrer Heimat, dem ewigen nur Geduldet sein, dem Fremdsein in der Welt.  


Schon elf Jahre wohnte Hilde in Santo Domingo, als ihre Mutter 1951 unerwartet in Deutschland starb - weit weg von der Tochter. Seit der Ausreise aus Großbritannien hatten sich die beiden nicht mehr gesehen. Sie fiel in eine tiefe Depression, mit ihrer Mutter starb auch ihr letztes Stück Heimat.


“Ich hatte es nicht gebraucht, nun brauchte ich es, das Dichten.” -Hilde Domin

Aus dieser tiefen Leere heraus, begann sie zu dichten. Das Dichten war eine Notwendigkeit, ihre Rettung, eine Gnade, die einen Sinn ergab und ihr aus der seelischen Krise half. Sie nannte es ihre „Alternative zum Selbstmord“. Sie fand ihren Künstlernamen. Santo Domingo machte sie zu Hilde Domin und ihre  Dichtung, ihr „Ort der Freiheit“ bewahrte ihre Identität. 

Erst veröffentlichte sie in Zeitungen, das Gedicht Ziehende Landschaft von Hilde Domin erschien 1955. 1956 brachte sie ihren ersten Gedichtband „Eine Rose als Stütze” heraus. Ihr Kredo: Streiche alles Überflüssige und Elitäre. Ihre Poesie ist direkt und verständlich, auf den Punkt gebracht mit einem feinabgestimmtem Maß an Gefühl und Metaphorik. Gebrauchslyrik mit Seele aus weiblicher Sicht.


Lost sein...

Das Gedicht Ziehende Landschaft schrieb sie vor fast 70 Jahren in der Gegenwartsform.

Sie friert die universale Erfahrung ein, fremd und ausgeliefert zu sein, als Flüchtling, Vertriebener, Asylbewerber, Einsamgewordener – heute wie schon immer. Kriege und politische Umwälzungen, private Zäsuren, Verluste. Sie entwurzeln. Und auch ich lese meine eigenen Erfahrungen darin- Ich kenne das Gefühl "Lost zu sein", das Leben verändert sich von heute auf morgen so sehr, dass ich mich in einem Art Nichts- Zustand befinde. Mir hat vor Kurzem eine kluge Person gesagt, "Das Nichts ist nicht schlecht, du hast jetzt die Möglichkeit Neues in dieses Nichts zu pflanzen."


"Es ist ein Zeichen des Erwachsenseins, wenn man das, was man gerne möchte nicht bekommt, aber trotzdem damit leben kann." Hilde Domin

In vielen ihrer Gedichte ruft Domin zum Handeln auf. Sie sagte einmal, es sei ein Zeichen des Erwachsen seins, wenn man das, was man gerne haben möchte nicht bekommt, aber trotzdem damit leben kann und den Mangel in das eigene Leben einbaut.

Obwohl die Dichterin Englisch, Spanisch und Italienisch sprach, wählte sie die Sprache ihrer Verfolger, denn die Sprache war ihre letzte Heimat. Nach 20 Jahren im Exil kehrte sie nach Deutschland zurück und wirkte mit ihrer Sprache, ihren Worten und Taten weiter. Ihre Gedichte sind zuversichtlich und auffordernd zugleich:

Wir müssen resilient wie ein Baum sein, unsere Wurzeln müssen tief verankert sein und gleichzeitig müssen wir immer weiter gehen und etwas finden, was uns trägt. Für Hilde Domin war es der poetische Ausdruck. Was trägt dich?


Ich wünsche dir einen wunderschönen Mai!












 
 
 

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