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Rainer Maria Rilkes Herbsttag – Ein neuer Blick in die geheimnisvolle Melancholie des Herbstes

Aktualisiert: 11. Jan.

Herbsttag ist ein Gedicht über die Melancholie und Magie des Herbstes - es lehrt uns, dass wir sogar in der Vergänglichkeit Ruhe und Inspiration finden können.



Frau im Wind an einem Herbsttag, Graphik

Vor ein paar Tagen saß ich noch im T-Shirt auf meinem Fahrrad, die warme Herbstsonne strahlte mir ins Gesicht, und ich strahlte zurück. 

„Das war der letzte schöne Tag dieses Jahres“, sagte meine Nachbarin trocken, als ich und meine gute Laune ihr im Treppenhaus begegneten. Ohne mich anzusehen, zog sie die Haustür hinter sich. zu. Sie ließ mich alleine stehen mit ihren Worten. Schon der letzte schöne Tag?


In der Wohnung angekommen, fiel mein Blick sogleich auf die Garderobe mit meiner Sommerkleidung. “Die luftige weiße Hose hatte ich kaum getragen.” dachte ich bei mir. Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, blickte ich in einen grauen, regenverhangenen Himmel. Die Nachbarin hatte recht behalten: Der letzte warme Tag war vergangen. Ich wurde wehmütig. Wieder einmal Abschied nehmen, diesmal vom Sommer. 


Der Oktober und seine zwei Gesichter


Ich suchte nach aufmunternden Versen für dein Gedichte-Abo und stieß auf eine Flut von melancholischen Herbstgedichten. Irgendwann gab ich auf. “Na gut!”, dachte ich, “so soll es sein, ein trauriges Herbstgedicht. Aber wenn schon Herbstmelancholie, dann wenigstens in Perfektion!” Diesen Monat bekommt du das schönste aller melancholischen Herbstgedichte: Herbsttag von Rainer Maria Rilke.


Rilke ist ein Meister der lyrischen Form. Bei ihm gibt es keine Halbheiten, kein Nachlässiges, keine Schlamperei. Er versteht sein Handwerk, seine Verse sind makellos und von tiefem ästhetischem Feingefühl durchzogen. Die Form ist bei Rilke immer auf wunderschöne Weise klug und tiefgründig mit dem Inhalt verwoben. 


Die ersten beiden Strophen des Gedichtes strahlen Musikalität und Harmonie aus. Melodisch und rhythmisch beschreibt Rilke umarmend reimend den Übergang vom Spätsommer zum Herbst. Nichts scheint aus der Balance zu geraten. Jedes Wort sitzt, jede Zeile fließt ineinander, so wie auch die Jahreszeiten fließen. Kein Wort bleibt am Ende allein. Der Sommer kann nun nicht länger bleiben – der Zeitpunkt der Vollendung ist gekommen.


Doch dann, in der dritten Strophe, folgt der Bruch. Der Fokus verschiebt sich von der Natur zum Menschen. Von der goldenen Herbstsonne zur düsteren Nebelschwade. Die Ambivalenz des Herbstes: Nach der Vollendung der Natur kommt das Dunkle, das Schattige, das Einsame. Der Herbst kündigt sich an, als Jahreszeit und in diesem Gedicht als Spiegel unserer inneren Zustände.



Mir geht das alles etwas zu schnell. Der Hebst bläst mir seine Kälte mit voller Wucht ins Gesicht. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr,“ mahnt Rilke. Was jetzt nicht vollendet ist, wird es auch in der Zukunft nicht sein. Wie pessimistisch kann man denn sein? Nein, Rilke lässt keine Ausflüchte zu, bohrt seinen Finger in die Wunde. Zwingt  hinzuschauen. 


Ich glaube, die Tatsache, dass Rilke die Ambivalenz des Herbstes so melancholisch  beschreibt, macht das Gedicht erst so besonders und wunderschön. Herbsttag ist eine Metapher für die menschliche Unvollendung. Interessanterweise ist es eines der am meisten gelesenen Gedichte Rilkes. Sich unvollendet zu fühlen ist wohl universell. Keiner ist damit alleine. Jeder hat Ängste und Unsicherheiten. Die Melancholie und die Einsamkeit, die uns von Mal zu Mal packt, gehört zum Leben dazu. Wir reflektieren, wir überdenken und prüfen unsere Situation, wir sammeln uns innerlich und akzeptieren. 


An diesem ersten schlechten Tag – den  meine Nachbarin heraufbeschworen hatte – fuhr ich bei strömenden Regen mit dem Fahrrad nach Hause- der Weg ging durch den Park. Frierend und durchgenässt strampelte ich durch braune Regenpfützen. Ich war vermutlich die einzige Verrückte, die bei diesem Wetter noch draußen unterwegs war. “Einfach nur heim,” dachte ich. Da erblickte ich den Fluss, an dem ich wie gewöhnlich vorbeifuhr. Noch nie zuvor sah er so märchenhaft aus, wie an diesem ersten schlechten Tag im Herbst. Er war von einer Decke aus grünem Wasserklee überzogen, umrahmt von Trauerweiden, während der Regen sanft auf die Oberfläche prasselte. Ich musste einfach anhalten. Es schien mir, als wäre ich die einzige Person auf der Welt inmitten dieser Idylle. 



“Altweibersommer weht im Wind.

Das ist ein Abschied laut und leise.

Die Karussells drehn sich im Kreise.

Und was vorüber schien, beginnt.“


Aus Kästners Gedicht “September”



Ob der Herbst nun ganz dunkel wird oder noch goldene Herbstsonne bereit hält, werden wir sehen. Eines aber ist sicher: Der nächste Zyklus kommt, die nächste Veränderung steht vor der Tür. 


Mit dem Herbst ist jetzt erst einmal eine Zeit der Einkehr gekommen. Machen wir es uns zu Hause richtig gemütlich!


Ich wünsche dir einen kuscheligen Oktober!




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